Zum Verhältnis von Geometrie und Kunst
„Doch die Mathematik gab ich auf und wandte mich der Kunst zu, als mir bewusst wurde, dass es in der Mathematik keine Gewissheit gab: Es wird einem gesagt, dass sich zwei Parallele niemals treffen, und dann hört man, dass sie sich in einer nicht euklidischen Geometrie ohne Mühe treffen können. Ich war enttäuscht und tief beunruhigt und wandte mich der Gewissheiten zu, die man fühlt, anstatt jenen die man uns lehrt.“ (Louise Bourgeois)
Die Künstlerin Louise Bourgeois lernte ich persönlich bei häufigen Atelierbesuchen in New York kennen (1990-93). Aus ihrem Zitat wird deutlich, dass sie sich von der Mathematik entfernte, als sie sich für den Kunstweg entschied. Diese Entscheidung ist eine sehr persönlich bezogene Position. Louise Bourgeois reagiert bevorzugt aus einer konzentrierten psychischen Befindlichkeit, sinnliche Druckverhältnisse zeitigen ihre bildliche Ausdruckskraft. Mathematische Aussagen verunsichern ihre Persönlichkeit.
In der zehnten Schulklasse erfuhr ich von meinem Mathematiklehrer, dass zwei Parallelen sich in der Unendlichkeit treffen. Diese Behauptung provozierte in mir Sehnsuchtsgefühle, mich im weiten Raum einzufühlen. Im Gegensatz zu Louise Bourgeois integrierte ich meine Vorliebe für Geometrie in die Kunst.
Wenn Parallelen sich schneiden, ergeben sie ein natürliches Rautenraster. So kreierte ich mit dem Werkzyklus „Die Raute“ 1999/2000 und 2004 eine systematische Geometrie, die über einer pulsierenden gestischen Malerei expandierte. Seit 1996 erarbeite ich in dieser Synthese mein Kunst-Raum-Empfinden. Geeignete geometrische Folien fand ich auch in den Verzerrungen von konzentrischen Kreisen oder im arabischen Mosaik, Polygonüberschneidungen mit Kommunikationscharakter. Diese geometrische Kunstarbeit mündet zwar nicht in mathematischen Formeln sondern in geometrische Musterlösungen, die meine informelle Malerei räumlich steigert und strukturiert. Dieser bildliche Prozess setzt zwei Talente frei.
Gefühlte Leidenschaften und klare analytische gesetzmäßige Bewusstseinsebenen treffen sich in einem Kunstgenuss.
Sieglinde Bölz, 19.04.2006